Die Entfaltung von “Sung” durch Innere Energiearbeit Befreie Dich von inneren Fesseln und erwecke Bewusstsein für Körper und Geist

Artikel: Paul Cavel

Übersetzung: Sebastian Heyer und Cindy Roch

Der chinesische Begriff „Sung“ wird oft mit „entspannt“ übersetzt, einer starken Vereinfachung des tatsächlich Beschriebenen. Eine genauere Übersetzung wäre „Ungebunden“, ein Körperzustand ohne unnötige Bindungen, Widerstände und Verspannungen. Nun ist das intellektuelle Verständnis eines Konzepts ein guter Anfang, jedoch ist das Ziel des Praktizierenden der “Wasser Methode” die direkte Erfahrung, jenseits mentaler Konstrukte. 

Ohne “Sung” behindern Widerstände den frei zirkulierender Fluss von Blut und Qi, wohingegen ein ausgeglichener Fluss Körper und Geist harmonisiert und Gesundheit und Vitalität ermöglicht. Dies macht “Sung” zu einem wichtigen Meilenstein für jeden ernsthaft Übenden. 

Entspannen ist nicht Kollabieren 

Gib jemandem den guten Rat sich zu entspannen und der Angesprochene sucht sich ein Sofa oder lehnt sich wenigstens an die Stuhllehne . Aus chinesischer Sicht ist das weniger Entspannen, sondern vielmehr Kollabieren. Schauen wir uns diesen Unterschied genauer an. 

Entspannung beschreibt den Zustand in dem alle in den Weichteilgeweben (Muskeln, Faszien, Sehnen und Bändern) gefangenen Spannungen aus dem Körper gelöst werden. Kollabieren meint, die Körperstrukturen wie einen nassen Sack zusammenrutschen zu lassen. Letzteres ist nicht hilfreich, stattdessen sollte das Knochengerüst: 

  • durch die Bänder verbunden sein. 

  • so ausgerichtet sein, dass die Bänder sich federnd und lebendig anfühlen. 

  • offen sein, so dass es den Raum zwischen den Knochen also den Gelenken nicht verdichtet.

Die meisten glauben: “Zum gerade Stehen oder Sitzen brauche ich meine Muskeln!” – nicht zwangsläufig. Die Bänder sind es, die das Skelett zusammen halten und so den Körper in eine aufrechte Position bringen. Sind diese nicht richtig ausgerichtet und federnd, müssen die Muskeln sich anspannen um den Körper beieinander zu halten und so Haltung überhaupt erst zu ermöglichen. "Sung" ist der Prozess des Verlängerns verkürzter Muskulatur, der Ausrichtung des Knochengerüstes und der Aktivierung der Bänder als verbindende und tragende Elemente. Diese Veränderung wird möglich, indem langsam und methodisch die erforderlichen Verbindungen zwischen Körper und Geist geschmiedet werden. Menschen haben keinen „Ein/Aus-Schalter“, mit dem man die Bänder an- und die Muskelaktivität ausschalten könnte - man braucht Zeit und Übung. 

Entspanne die Außenhülle um zu deinem Inneren vorzudringen 

Um den Zugang zu deinem Inneren zu finden, müssen die Verspannungen des Weichteilgewebes der äußeren Schichten loslassen. Zu Anfang bedeutet das: Von Außen nach Innen arbeiten. Da du dich von der Oberfläche zu den Knochen vor arbeitest, kannst du so Blockaden lösen, die als eine Art Panzer über tiefliegenden Verspannungen liegen und so verhindern dass diese den Körper durch die Haut und / oder die Extremitäten verlassen. Selbst wenn es dir gelingt eine Verspannung tief in deinem Inneren zu lösen, kann diese sich wieder in einer Blockade einer oberflächlicheren Schicht verfangen und sich somit nicht vollständig lösen. So verlagert sich die Verspannung an einen neuen Ort oder sinkt, was wahrscheinlicher ist, zurück an die alte Stelle. 

Oft sage ich Schülern aller Leistungsstufen: “Benutzt weniger Anstrengung beim Üben!”. Um die verspannten Schichten im Körper zu lösen, muss der Zugang zu diesen durch einen mit entspannter Intention gerichteten Geist geschehen. 

Während des Übens richten die meisten Schüler ihre Intention schlichtweg mit zu viel erzwungener Kraft nach innen. Statt Entspannung, erzeugen sie Härte im Körper. Je weniger Anstrengung, umso weniger presst du Körper und Geist in lange festgelegte Gewohnheitsmuster, desto eher kannst du durch die Verspannungen der Muskulatur in die darunter liegenden Bänder sinken. Dieses Sinken erzeugt eine verbundene Struktur zwischen den Knochen im Skelettsystem, die von einem gewissen Grundtonus abgesehen, von der Muskulatur wenig Aktivität beim Bewegen / Stehen erfordert. 

Die westliche Bezeichnung „Muskuloskelettales System“ wirft Muskulatur und Knochengerüst zusammen in einen Topf. Adepten der Wasser-Methode betrachten beide Strukturen als zwei unabhängige Systeme, die sich zu einem Ganzen integrieren. Diese konzeptionelle Unterscheidung ist der erste Schritt in Richtung „Sung“. Versuche demnach so gut ausgerichtet wie möglich in deinem Knochengerüst zu stehen, während du ein Gefühl des Loslassens in allen Muskeln aufrecht erhältst. 

Normalerweise ist es wesentlich einfacher die Muskeln der Arme, als die der Beine zu entspannen (Verletzungen ausgenommen!). Aber, um ehrlich zu sein, den meisten fällt es schwer irgendeinen Muskel in ihrem Körper zu entspannen... 

Der Großteil der Menschen hält seine Muskeln bei der Vielzahl der täglichen Aktivitäten in Daueranspannung. Das fängt schon beim Gehen, Auto fahren, der Benutzung von Smartphones oder dem PC, dem Schreiben oder beim Sport treiben an. Diese immer präsente Muskelanspannung entsteht aus den physischen, emotionalen und mentalen Spannungen die du im Laufe deines Lebens erlebst - das wird nicht einfach in ein-, zwei Trainingseinheiten verschwinden. Du musst deinen “Body-Mind” (Also den Teil deines Geistes der den Körper fühlt und lenkt) schulen deine Muskulatur nicht mittels reziproker Hemmung anzusteuern sondern diese vielmehr flüssig und entspannt zu bewegen, auch und gerade wenn das Leben stressig wird. 

Reziproke Hemmung versus “Beugen und Dehnen” 

Das Konzept der reziproken Hemmung agonistisch und antagonistisch arbeitender Muskulatur besagt, dass diese Muskelgruppen einander entgegengesetzt wirken: eine Gruppe spannt während die andere entspannt. Beispielsweise spannt sich der Bizeps um den Ellenbogen zu beugen und die Hand zu heben, während der Trizeps spannt um den Ellbogen zu strecken und die Hand zu senken. Obwohl die Muskulatur tatsächlich entspannt während der entgegengesetzte Partner aktiviert wird, verdichtet die zur Gewohnheit gewordene Anwendung reziproker Hemmung Spannung im Körper. Im Gegensatz dazu arbeitet die Nei Gong Technik „Beugen und Dehnen“ mit Agonist und Antagonist zur gleichen Zeit in einem beliebig wiederholbaren 4-Phasen-Kreislauf.

  • Phase 1 aktive Beugung: Das Beugen der Gliedmaßen speichert (kinetische) Energie im Weichteilgewebe, ähnlich wie ein Bogen, der Energie im Schaft speichert, wenn man die Sehne spannt.

  • Phase 2 passive Dehnung: Die Bewegung wird durch ein kontrolliertes, langsames und entspanntes Entlassen der vorher gespeicherten Energie eingeleitet.

  • Phase 3 aktive Dehnung: Der passiven Dehnung folgt eine sanfte aktive Ausdehnung aller beteiligten Muskelgruppen.

  • Phase 4: passive Beugung: Die Dehnung wird entspannt und kontrolliert entlassen, um die Beugung erneut zu beginnen. 

Dieser 4 phasige Zyklus bestehend aus aktiver Beugung – passiver Dehnung – aktiver Dehnung – passiver Beugung erzeugt ein die Gewebe durchdringendes Loslassen, so dass Übende Zugriff auf tiefe über einen langen Zeitraum aufgebaute Spannungen bekommen und diese sicher, effizient und praktisch gehen lassen können.

Das hört sich kompliziert an, aber dein regelmäßiges und bewusstes Training kann erstaunliches Bewirken - weit jenseits dessen was moderne, auf reziproker Hemmung basierende, Trainingsmethoden erreichen können. Du kannst mit viel Übungszeit und einer entspannten und fokussierten Intention durch dein Qi Gong / Tai Chi Lage für Lage der sich überlagernden Schichten aus alten Verspannungen und Blockaden abtragen und so den Prozess des Verfalls im Körper umkehren. Altern ist nicht gleich Verfall, vielmehr schließt und verdichtet Spannung im Körper das gesamte System und behindert so den Qi-Fluss. 

Im allgemeinen glauben wir, dass es ganz normal ist im Alter Schmerzen zu haben und uns schlechter bewegen zu können. Die östlichen Traditionen hingegen betrachten würdevolles Altern nicht nur als hypothetische Möglichkeit, sondern als lebendige Realität. Am Beispiel fortgeschrittener Nei Gong Adepten aller Altersklassen kann man wunderbar erkennen, dass Fitness von Körper und Geist auch bis ins hohe Alter bleiben, ja sogar weiterentwickelt werden kann. Natürlich ist das Finden und Halten des “Sung” Zustandes der Schlüssel zu all dem. 

Sung“, Stehen und die Wirbelsäule 

In der Praxis des Qi-Gong Stehens lässt du Spannungen aus dem Oberkörper durch den Unterkörper und schließlich in die Erde fallen. Während dieses Prozesses, entwickelst du deine energetische Wurzel - ein weiterer fundamentaler Aspekt der Gesundheits-, Heilungs- und Meditationskünste der Wasser-Methode. Nach einer gewissen Eingewöhnungszeit kann Stehen initial den Oberkörper entspannen und die Beine stärken - eine Vorbereitung auf Energieübungen in denen der Körper tatsächlich bewegt wird (Tai Chi und Bagua). 

Die Beine lenken auf zwei grundlegende Arten Bewegung in Körper und Arme: 

  • Äußerlich beginnen die Beine die Bewegung (z.B. das Setzen der Füße, Verlagern und Drehen), die Taille folgt und bewegt die Arme (hoch/runter, links/rechts und vor/zurück). 

  • Innerlich setzt sich das “Beugen und Dehnen” der Weichteilgewebe in den Beinen in einer wellenartigen Bewegung direkt zum “Beugen und Dehnen” in den Weichteilgeweben der Arme fort, ähnlich einer Ozeanströmungen unter der Meeresoberfläche die Wellen erzeugt, die wir am Strand als nie Endendes abebben und anfluten erleben. 

Um eine wirklich von innen kommende Bewegung zu erzeugen, muss die Kraft in den Beinen entstehen, über die Taille gelenkt und durch die Arme und Hände appliziert werden. Dem steht die Spannung des Körpers im Weg. Diese muss in einem erheblichen Maße den Oberkörper verlassen, da dieser sonst zu steif ist um Kraft aus den Beinen aufzunehmen - erkennbar an einer vom Rest des Körpers unabhängigen nicht verbundenen Bewegung der Arme. Dieses Phänomen kann relativ häufig bei Tai Chi Praktizierenden beobachtet werden. "Sung" kann hier einiges bewirken! 

Damit sich „Sung“ im Körper etablieren kann übernimmt die Wirbelsäule eine für die aufrechte Haltung entscheidende Funktion: Die Wirbelsäule steigt sanft aber deutlich, um jedes Kollabieren oder Anspannen der Rücken- oder Brustkorbmuskeln zu verhindern. Hierbei sind drei Punkte maßgebend:

Aufrichtung der Wirbelsäule: Ohne die umliegende Muskulatur anzuspannen, wird die Wirbelsäule sanft aufgerichtet und den gesamten Weg bis nach oben zur Nackenbasis verlängert 

  • Der Nacken ist leer: Die sanfte Aufrichtung setzt sich weniger stark, von der Nackenbasis, durch den Hals, bis hoch zum Schädel fort. 

  • Der Körper hängt an der Wirbelsäule herab: Der Rest des Körpers sinkt dem Boden entgegen und erzeugt ein Gefühl, dass alles im Innern von der Wirbelsäule herab hängt. Zu Anfang erzeugt man dieses Gefühl in den Armen, später wenn sich die Arme schwer genug anfühlen und für eine Weile entspannt bleiben können, versucht man den Fokus auf das Becken und die Muskeln im Bein zu lenken, so dass diese ebenso von der Wirbelsäule herab hängen können. 

Allmählich, über Wochen, Monate und Jahre, lassen die Muskeln los, die Bänder übernehmen und ein Gefühl der Tiefenentspannung macht sich im Körper breit... 

"Sung" beginnt sich zu manifestieren. 

Über “fortgeschrittene” Techniken 

Alles bis jetzt behandelte ist essentiell, um eine solide Basis für Qi Gong, Tai Chi als auch Bagua zu schaffen. Ohne diese grundlegenden Schritte bleibt alles nachfolgende ein mentales Konstrukt, das weder für Praxis noch Gesundheit hilfreich ist. Alle Künste der Wasser-Methode werden zirkulär geübt. Man lernt nicht linear und übt einen Aspekt, hakt diesen dann ab und wechselt zum nächsten…. 

Vielmehr übt man eine inhaltliche Ebene für mehrere Wochen oder Monate um ein Gefühl für Wirkung und Bedeutung zu bekommen, dann wechselt man zur darauf aufbauenden, “höheren” Ebene. Natürlich ist das was man hier erreichen kann, durch das Können der vorherigen Stufe limitiert, aber dieser Sprung gibt einem ein Gefühl dafür wo man steht und in welche Richtung es geht. Er lässt das Training in einem größeren Kontext erscheinen. Wenn man dann zu seiner, an das eigene Leistungsniveau angepassten Ebene zurückkehrt, kann man seine Praxis mit einem umfassenderen Verständnis vertiefen und sein Fundament festigen, bevor man sich wieder fortgeschritteneren Techniken zuwendet. 

Die Drittel Regel 

“Nicht zu wenig - nicht zu viel!” ist der Weg um "Sung" durch die Bewegung von Tai Chi oder Qigong entstehen zu lassen. Ein andere Ausdruck für diese Methodik wäre die Drittel-Regel der Wasser-Methode: 

Ein Paradigma das vom Übenden verlangt, Körper und Geist nicht über Gebühr zu strapazieren und die Strukturen nicht zu überdehnen. 

Halte immer wenigstens ein Drittel deines Potentials / Kraftaufwandes in Reserve, um deinem System dem Raum für Entwicklung zu lassen. Bei Verletzungen oder anderen Beeinträchtigungen behalte aus naheliegenden Gründen zwei Drittel in Reserve. Exzessives Üben (zu Lange Übungszeit / zu viel Anstrengung) sind die Hauptursache für Verletzungen und Innere Widerstände. Sung und die Drittel-Regel reduzieren und vermeiden die Entstehung solcher Unannehmlichkeiten und können bereits entstandene Widerstände vermindern. Ohne Beachtung dieses Prinzips bleibt „Sung“ ungreifbar und mysteriös. 

Wenn du beispielsweise die Tai-Chi Bewegung öffnendes Peng (die erste Bewegung, in der du die Arme hebst und weitest) vertiefen willst, wirst du Anfangs nur sehr wenig Widerstand in deinem Gewebe spüren. Beginnst du jedoch mit dem Öffnen deiner Strukturen, also dem Herausarbeiten aller Schlaffheit aus den Weichteilgeweben der Arme, Schultern, Nacken und des oberen Rückens, so spürst du Dehnung. Gehst du hier weiter, wird die Dehnung intensiver und intensiver bis du irgendwann die Schmerzgrenze erreichst und du deine Körperinstinkte ignorieren müsstest um diese zu überschreiten. 

Diese Schmerzen sind ein klares Signal für eine Überanstrengung, eine natürliche Reaktion des Körpers um Schaden zu verhindern. Das Nervensystem triggert eine schützende, sich zusammenziehende Reaktion im Gewebe. Du möchtest also weit vor der Schmerzgrenze üben, sie als das Wahrnehmen was sie ist: Körperintelligenz - eine eingebaute Schutzfunktion um selbst zugefügten Schaden zu verhindern. Sich selbst zu verletzen während man übt, um gesünder zu werden, scheint nicht die geschickteste Strategie zu sein. Hör also auf deinen Körper, wenn er „Stop“ sagt, auch wenn es bedeutet dass deine Bewegungen nicht unbedingt deinen Vorstellungen entsprechen. 

Um es noch einmal zu betonen, wenn du gesund bist liegt die richtige Trainingsintensität bei zwei Dritteln und reduziert sich bei Einschränkungen zu einem Drittel. Also zurück zu unserem Beispiel “Peng”: Suche den Punkt bei dem die Schlaffheit in deinem Körper neutralisiert wird und die Dehnung beginnt. 

Nach einiger Zeit kannst du die Gewebe sanft weiter ausdehnen, aber bleib immer noch jenseits der Schmerzgrenze. Sonst aktivierst du besagte, körpereigene Schutzmechanismen und untergräbst das Vertrauen deines Körpers in deine Praxis. Ein Vertrauen welches dein Körper zur Selbstheilung / Stärkung dringend benötigt. 

Bist du also gewohnt über deine zwei Drittel/ein Drittel Zone hinauszuschießen, kannst du von einer ständigen Aktivierung deiner Schutzfunktionen ausgehen - deine Mühe verpufft und dein Körper springt im besten Fall in den gewohnten Zustand zurück. Das einzige was schlimmer ist als nicht zu üben, ist durch üben das Vertrauen des Körpers in den Geist zu untergraben, indem du den Körper schädigst. 

Leider bin ich in den letzten 29 Jahren zu oft Studenten begegnet, die dieses Konzept nicht verstanden haben und deren Systeme auf „Alarmstufe Rot“ laufen. 

Sobald sie anfangen sich zu bewegen, fängt ihr Körper sofort an den bald bevorstehenden Kraftaufwand vorauszuahnen und bremst vorsorglich jede Bewegung. Falls du diesen Habitus beim Üben in dein Nervensystem gebrannt hast und jede Übungssession zu einem Boxkampf zwischen Körper und Geist wird, ist es Zeit sanft zwei Drittel zurück zu treten und nur mit einem Drittel Aufwand das Vertrauen deines Körpers in deine Übungspraxis wieder herzustellen. 

Der schmale Grat zwischen Zuviel und Zuwenig 

Ich werde oft gefragt: „Sind Pulsen und/oder Yin-Yang Energieströme nicht weiche Nei Gong Anwendungen und somit geeignet um „Sung“ zu erzeugen?“1 Vielleicht. 

Werden pulsende Techniken („öffnen und schließen“) zu früh unterrichtet, wird ohne dass der Übende es bemerkt Muskelspannung in das Bewegungsprogramm kodiert. 

Von da an gestaltet es sich viel schwerer das, Pulsen ohne Spannung neu zu erlernen. Werden die Muskeln durch „Beugen und Dehnen“ Techniken vorbereitet und entwickeln “Sung” so kann das Pulsen „Sung“ verstärken und Entspannung tief in das Innere des Körpers tragen. Dasselbe gilt für die Yin-Yang Energieströme. 

Wenn du gesund bist und nie deiner Zwei Drittel Grenze nahe kommst, wirst du zwar oberflächliche Entspannung erzeugen, jedoch nie die über die Jahre in der Tiefe angehäuften Spannungen verringern. Dies kann nur der Zwei-Drittel Dehnzug durch die Weichteilgewebe. Wer also zu wenig investiert wird niemals Zugang zu den tieferen Restriktionen finden, während derjenige, die zu viel macht den Körper blockiert. 

Die meisten Schüler üben zu bemüht und schicken so zu viel Kraft in ihre dadurch hart wirkenden Formen oder sie strengen sich zu wenig an, was ihre Formen schlaff und geschlossen aussehen lässt. Du musst den schmalen Grat zwischen den beiden Extremen in deiner Formen finden - nicht nur an ein, zwei Stellen, sondern in jeder Drehung und Wendung der Bewegungsabläufe. Fühle bei den ausdehnenden Bewegungen deinen Körper und suche nach dem Punkt an dem Schlaffheit verschwindet und die Dehnung beginnt, ohne die Schmerzgrenze zu überschreiten. 

Darum geht es beim Üben: Fühle während der Form dein Fleisch und justiere deine Bewegungen mit winzigen Korrekturen um auf dem schmalen Grat zwischen zuviel und zuwenig zu balancieren. Wenn du deine Form genau richtig durch “spielst“, lassen die Nerven los und die Gewebe entspannen sich. So kann sich der Umfang deiner “Zwei Drittel” vom Anfang bis zum Ende der Session stark ausdehnen. Tatsächlich ist eine wachsende Kapazität ein deutliches Zeichen für korrektes Üben. Falls dein Körper sich während der Form nicht öffnet und kein Gefühl der Tiefenentspannung mit einem erhöhter Blut- und Qi Fluss entsteht, hat diese Übungseinheit nicht den gewünschten Zweck erfüllt. Bedenke jedoch, dass sich die Wahrnehmung der Form in deinem Bewusstsein ändert da dein „Body – Mind“ in ständiger Bewegung ist. Mechanische Wiederholungen mögen sich jedesmal anders anfühlen, oft ändert sich objektiv in den Bewegungen jedoch nichts. Stattdessen sollte dein Körper Geist (also DU) sich fühlend mit jeder Bewegung verbinden und diese entsprechend anpassen und so über die Jahre Sensibilität und Präzision entwickeln. 

Hierfür ein Beispiel: Jedes Ausdehnen löst ein natürliches Zurückfedern aus, das dich in die Neutralstellung zurück trägt. Für die Qualität der Rückbewegung ist weniger entscheidend, dass man die Dehnung loslässt, vielmehr ist die Art und Weise des Loslassens von Bedeutung. Lässt du plötzlich los, schnappen die gedehnten Gewebe wieder zur Neutralstellung zurück und unterbrechen so die Verbindungen zwischen Nervensystem und Blut- / Qi-Fluss. Lässt du hingegen weich, entspannt und wohl dosiert los, kann man die Dehnung gehen lassen ohne das Nervensystem anzuspannen. Dadurch lösen sich tiefere Gewebsschichten, die sich dann in die Bewegung integrieren können. Das erhöht wiederum den Rückfluss von Blut und Qi aus dem gedehnten Körperteil zurück zur Mitte. 

Wie weit du ein Körperteil in die Beugung ziehst ist genauso wichtig wie das Dehnen. Du gehst nur so weit zurück, bis der Punkt erreicht ist, an dem das Gewebe gerade wieder schlaff werden will, nicht weiter. Schlaffheit bedeutet immer eine Unterbrechung im Fluss des “Beugen und Dehnen” Zyklus. Statt im nächsten Durchgang Qualität und Tiefe des Loslassens zu intensivieren, müsstest du dich erst wieder in den Zyklus einklinken. 

Erinnere Dich: Loslassen erzeugt „Sung“. Intermittierendes Verbinden / Trennen, besonders Überdehnen / gar nicht dehnen, machen eine Form ineffizient und verringern die positiven gesundheitlichen Effekte. Also lass jeden “Beugen und Dehnen” Zyklus innerhalb der Zwei Drittel Komfortzone geschehen, und erhalte so, wie es die Klassischen Schriften des Tai Chi raten, in allen Bewegungen der Form ungebrochene innere Energie aufrecht. Dies ist der Punkt an dem man in ein „Kontinuum der internen und externen Integration“ eintreten kann. Hier verbinden sich äußere Form und grundlegendes inneres Nei Gong zu einem ungebrochenen Strom aus kontinuierlicher Bewegung. So wie die Wellen der Ozeane langsam und sanft Felsen in Sand verwandeln, entsteht aus diesem Kontinuum “Sung”. 

So beeinflusst der “Bend und Stretch” Zyklus nicht nur die Regulation der an- und abschwellenden Blut- und Energieflüsse, sondern auch den Grundtonus des Nervensystems und damit auch die Entspannung der Muskulatur. Ist dieser Zustand erreicht geht es nur noch um Tiefe.

Diese Tiefe birgt jedoch für viele Übende folgendes Problem:  Praktiziert man komplexe und tiefe Nei Gong Techniken bevor man "Sung" als stabile Basis implementiert hat, erstickt man eher sein Üben als das man es verbessert. 

So lange „Sung“ noch nicht im Körper lebt entspricht der Versuch fortgeschrittene Nei Gong Techniken zu üben einem Kleinkind das rennt bevor es stehen kann. Nei Gong arbeitet sich systematisch von den oberflächlichen Muskeln zu den tiefer liegenden Bändern und Knochen vor. Hat “Beugen und Dehnen” das Gewebe vorbereitet können die Techniken des “Drehen und Winden” diesen Prozess vertiefen, da diese auf natürlicher Weise die Gewebe tiefer durchdringen. 

Das “Bewusstwerden” des Körpers. 

Einer der wichtigsten Aspekte der “Wassermethode” ist das “Bewusstwerden” des Körpers, um nach und nach alles was uns Menschen einengt (Spannung im Gewebe und in den Nerven ist nur ein kleiner Teil der möglichen Blockierungen) zu lösen, und so Leben in die toten Bereiche des Körpers fließen zu lassen. Sowohl die Formen als auch die inneren Komponenten, welche diese zum Leben erwecken, wurden erschaffen um diesen Prozess des „Erwachens“ zu initiieren. Wenn die verschiedenen Techniken der Kräfte von Yin und Yang kombiniert werden (z.B. “Beugen und Dehnen”, “Drehen” und “Winden”) , verstärken und beschleunigen sie sich gegenseitig – natürlich unter Berücksichtigung der Drittel-Regel. Dies wird möglich da jede Komponente auf die andere aufbaut. Ein Beispiel: Eine Beugung entspannt die Nerven und erlaubt der Dehnung einige Spannung aus dem Körper zu entlassen. Die folgende Drehung übernimmt den neu gewonnenen Raum und aktiviert die nächste tiefer liegende Schicht aus blockiertem Gewebe. Mit viel Übungszeit und vielen Wiederholungen kann so folgendes erreicht werden: 

  • das Wecken der Weichteilgewebe 

  • das Lösen von Verklebungen und Verspannungen zwischen den Geweben 

  • das Öffnen der Gewebe 

  • das Erzeugen von Weichheit und Beweglichkeit im Gewebe 

  • die Verbindung der Gewebe mit dem Rest des Körpers und die Integration in das Körperbewusstsein. 

Letztendlich dringen die Techniken bis zum Knochen vor (aber niemals in den Knochen!). Mittels dieser Methoden kann der Prozess „Sung“ nicht vollständig abgeschlossen werden und die Körpergewebe werden sich noch nicht völlig öffnen, aber du etablierst so eine gute Verbindung durch alle Gewebsschichten hindurch – sowohl in Länge als auch in Tiefe – und beschreitest den Weg einen Großteil deiner für uns moderne Menschen so typischen äußerlichen Spannungen abzustreifen.

Du spielst die Form und die Form spielt auf dir. 

Wenn du dieses Übungsstadium erreicht hast, kann deine Form wirklich gut werden, da sich alle Anstrengungen, die in den Anfangsjahre nötig waren in Luft auflösen. 

Der Körper fühlt sich leer, zur gleichen Zeit jedoch voll an – ein Paradoxon dessen Verständnis sich erst durch das Erleben erklärt. Du spielst mit der Form und in gleichem Maße spielt die Form mit dir. Du beginnst zunächst dem Weg des geringsten Widerstandes zu folgen (getreu der Wasser-Methode) und zwingst dich nie durch Spannung hindurch. Stattdessen erlaubst du jeder fühlbaren Spannung im Rahmen des in dir verfügbaren Raums die Form zu verändern. 

„Sung“ ist eine Qualität, der sowohl die einfachsten Gesundheitsbedürfnisse, als auch fortgeschrittene Nei Gong Techniken zugrunde liegen. Ohne „Sung“ sind die inneren Künste den äußeren in nichts voraus. Einer meiner Kollegen, der selbst ein Leben lang innere Künste praktiziert und ein hoch angesehener deutscher Mediziner ist, sagt gern: „Ohne Entspannung gibt es keinen Grund innere Künste zu praktizieren. Die Leute wären besser bedient, würden sie einen Waldspaziergang unternehmen, statt mit zu komplexen Übungen ihre Anspannung zu verstärken!“ 

Man investiert einige Zeit um “Sung” zu generieren und zu verbessern und erst danach taucht man tiefer in das Nei Gong. Die Qualität Sung ist der zugrunde liegende Nährboden, in dem sich Nei Gong entwickeln kann. Sung muss sich erst getrennt von Nei Gong in den Sets und Formen entwickeln, bevor man Sung und Nei Gong - Techniken in den Formen zusammenführt. 

Wenn der Großteil der äußeren Spannung abgetragen wurde, wird dein Bemühen die nächsten Nei Gong Komponenten einzubauen, ganz natürlich das Üben erweitern. Im Gegensatz dazu wird das Pulsen von Gelenken oder Höhlungen, die von Verspannungen umgeben sind, genauso schwierig wie das Öffnen einer Tür mit festgerosteten Scharnieren. Im besten Falle erreicht man ein eingeschränktes Pulsen innerhalb des Raumes, den die Verspannung zulässt, im schlechtesten Falle durchbricht man die Blockierung mit Kraft, überreizt alle beteiligten Strukturen und hat gute Chancen sich dabei zu verletzen. 

Nun wird ein Gelenk von Knochen gebildet und von Weichteilgewebe umschlossen. Bewegt sich also das Weichteilgewebe, werden sich die Knochen / das Gelenk darunter zu einem gewissen Maße auch bewegen.Diese Bewegung wird oft mit dem eigentlichen Pulsen verwechselt. Pulsen wird direkt vom Energietor in der Mitte eines Gelenks generiert, unabhängig von den umliegenden Gewebsschichten. Wenn der Puls aktiviert wird, kann er entweder koordiniert mit den Bewegungen der Gewebe laufen, oder in einem völlig anderen Rhythmus zu ihnen arbeiten. 

Letzteres erfordert ein hohes Maß von Können sowohl beim Pulsen als auch beim Bewegen der Weichteilgewebe. Beide Techniken müssen unabhängig voneinander entwickelt werden. 

Ein Hohlraum (s.g. Cavity) ist eine ganz andere Hausnummer. Sie hat keine Knochen und besteht aus Bindegewebe, durchtränkt mit interstitieller Flüssigkeit. Das heißt um so eine Hohlraum zu pulsen, muss man direkt das Qi der Flüssigkeit im Hohlraum wahrnehmen und damit arbeiten. Dies ist ein viel zarterer Vorgang, als das Pulsen der Gelenke, und bevor eine Höhlung komplett in einen Puls integriert werden kann, muss zwingend der Hauptteil der Spannung aus den Weichteilgeweben gelöst worden sein. Der Vergleich von verrosteten Türangeln hinkt hier ein wenig – es ist vielmehr so, als ob eine riesige Python ihren gewaltigen Körper um dich schlingt und dich dann jemand bittet einzuatmen! Keine Chance ... jede Kraftanstrengung und deine volle Konzentration, richten sich darauf nicht zu ersticken. Pulsen ist DIE Yin Nei Gong Technik schlechthin - so subtil, dass allein die Intention des Körper-Geists ausreicht um das Pulsen zu generieren. Das ist natürlich nicht möglich, wenn Schichten über Schichten von Spannungen die Bewegung verhindern. Das heißt „Sung“ muss zu einem gewissen Maße entwickelt worden sein, um das Pulsen in der Cavity lebendig werden zu lassen. Das Gleiche gilt für Yin-Yang-Verlängerungstechniken, welche von der Wirbelsäule zu den Extremitäten fließen und zurück zum Bauch. Ohne „Sung“ ist viel Aufwand nötig, um eine kleine Bewegung im Fleisch zu erreichen, mit „Sung“ fließt die Intention durch den Körper und nimmt die Bindegewebe einfach mit. 

Kursanfragen zum Thema “Pulsen” sind wesentlich häufiger als zu anderen Themen. Aus genau den Gründen, die ich oben erwähnt habe, bin ich allerdings eher zurückhaltend was das tatsächliche Unterrichten des Themas betrifft. 

Eine Botschaft an alle Praktizierende der Inneren Energiearbeit: “Verschwendet eure Zeit und Energie nicht mit fortgeschrittenen Nei Gong Techniken. Klärt erst alle Probleme und Schwierigkeiten mit den Grundtechniken.” Viele Menschen haben kein angemessenes Gefühl für Dinge die ihnen gut tun. Die Medien, unsere kulturelle Programmierung und ein stressiger Lebenswandel sind für die große Ignoranz unseren Körpern gegenüber verantwortlich. Doch viel schlimmer ist es, diesen ganzen Nonsens zu durchschauen und sich dann doch wieder mittendrin zu finden, weil man nach den Sternen greift, obwohl es im eigenen Hinterhof noch so viel zu entdecken gibt. Ein mir von Herzen kommender Ratschlag ist der unbedingte Fokus auf grundlegende Nei Gong-Techniken und der Entwicklung eines„Sung-Körpers“. Dadurch kannst du Gesundheit jenseits deiner bisherigen Möglichkeiten erfahren und fortgeschrittene Nei Gong Techniken werden sich mit der Zeit ganz von selbst entfalten. Ganz ohne mentale Projektion von Zielen - in der für dich angemessenen Zeit. 

Du musst dich auf die Grundlagen besinnen um voran zu kommen 

Willst du ein hohes Level an Fähigkeiten erreichen, musst du ein stabiles Fundament aufbauen: gehe noch einmal zurück zum Anfang und verfeinere jede Komponente, die du je gelernt hast, bevor du weiter oder höher strebst. Arbeite dich so durch jede Entwicklungsstufe und lass keinen Stein auf dem anderen. 

Dann und nur dann, kannst du das volle Potential der Übungen ausschöpfen. 

Je mehr Zeit und Energie du in die Entwicklung von “Sung” steckst, desto stabiler werden deine Formen, deine Gesundheit und dein Wohlbefinden. 

Paul Cavel ist Gründer und Vorsitzender des „Tai Chi Space“, einer Schule mit Sitz in London, gegründet um die Künste der Wasser-Methode zu lehren. Seit 1987 studiert Paul Daoistische Meditation, Atmen, Fünf Elemente Übungen, Qigong, Tai Chi, Monastic Bagua, Bagua Zhang, Yoga, Tuina, Energieheilung und das I Ching. Paul ist ein zertifizierter Bindegewebs- und Traumatherapeut, und hat seit mehr als 29 Jahren die Künste der Wasser-Methode gelehrt und ist seit 1995 in Deutschland als Lehrer tätig.

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